Buch 2: Gut zu wissen
Das zweite Buch „Georgien“ handelt vom Aufenthalt des Ehepaars Suttner im fernen Kaukasus-Land. Bertha und Arthur Gundaccar Baron von Suttner mussten heimlich heiraten, da die Familie von Arthur gegen die Heirat war. Ob sich ihre Träume in Georgien erfüllten, erfährst du, wenn du diese Buch liest.
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Die Reise nach Georgien 1876 war für das jungverheiratete Ehepaar Suttner auch eine Flucht aus Wien. Denn ihre Eheschließung entsprach nicht den Gewohnheiten der großbürgerlichen oder adeligen Gesellschaft, in der der Ehemann meist älter war als seine Frau und den gemeinsamen Haushalt durch seine Berufstätigkeit oder sein Vermögen finanzieren konnte. Eine derartige Vorstellung war dem Bauern- oder Handwerkerstand vollkommen fremd, denn traditionellerweise wurden die Tätigkeiten der Ehepartner, die oft unterschiedlich waren, sich aber immer auf den Hof oder das Gewerbe bezogen, als gleichwertig erachtet. Doch seit der Aufklärung versuchte man ständische Unterschiede zu Gunsten eines normativen Bildes, das für alle gelten sollte, aufzuheben. Das hatte auch Auswirkungen auf die Vorstellungen von Ehe und fand einen Niederschlag in Zivil- und Privatrechtsgesetzen, die um 1800 in vielen europäischen Ländern erlassenen wurden. So formulierte das im Kaisertum Österreich seit 1812 gültige Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch ganz explizit in Paragraph 91: „Der Mann ist das Haupt der Familie […] es liegt ihm aber auch die Verbindlichkeit ob, der Ehegattin nach seinem Vermögen den anständigen Unterhalt zu verschaffen.“
Davon konnte bei dem sechsundzwanzigjährigen Studienabbrecher Arthur Gundaccar nicht die Rede sein. Nur der erste Punkt des nachfolgenden Paragraphen 92 traf zu: „Die Gattin erhält den Namen des Mannes und genießt die Rechte seines Standes“. Die von Vatersseite hochadelige Bertha Komtesse Kinky heiratete in eine freiherrliche Familie „hinunter“ und wurde verehelicht zu einer Baronin Suttner. Ihre Schwiegerfamilie hatte überdies durch den Börsenkrach von 1873 auch einiges Vermögen und vor allem gesellschaftliche Reputation verloren. Doch als sie später berühmt geworden im gesellschaftlichen Verkehr Visitekarten verwendete, setzte Bertha neben ihren Namen immer den Zusatz „née [geborene] Kinsky“, was zeigt, wie wichtig ihr die Betonung ihrer familiären Verbindung in den Hochadel Zeit ihres Lebens war.
Freilich zählten derartige Überlegungen – wie auch die Fortführung des Paragraphen 92 „sie ist verbunden, dem Mann in seinem Wohnsitz zu folgen, in der Haushaltung und Erwerbung nach Kräften beizustehen“ – zunächst für das junge Paar nicht: Sie hatten gegen den Willen der Eltern des Bräutigams geheiratet, fielen daher aus diesem gesellschaftlichen Netzwerk heraus, hatten in Wien keinen Wohnsitz und hofften daher – etwas leichtgläubig – ausgerechnet in dem rund 3000 km entfernten Georgien einen Erwerb zu finden.
Diese Idee stammte von Bertha, die zwölf Jahre zuvor in den Zeiten als ihre Mutter noch ihr Glück an den europäischen Spieltischen suchte, Ekaterina Dadiani (1816 – 1882), Fürstin von Mingrelien, kennengelernt hatte. Bekanntschaften, zumal solche interessanten, fast exotischen, wurden im 19. Jahrhundert über die Jahre durch den Austausch von Briefen gepflegt, dh gewissermaßen warmgehalten. Bertha hatte ebenso wenig wie ihr Mann Vermögen oder eine berufliche Ausbildung, aber sie konnte zumindest eine gesellschaftliche Verbindung aktivieren. Unglaublicherweise erhielt das junge Paar fast postwendend eine Einladung.
Aus europäischer Sicht war Georgien ein sagenumwobenes Land im Kaukasus: für die Gebildeten war Mingrelien, jener Landesteil in dem sie nach mehrwöchiger Reise ankamen, die Heimat der Medea und das Ziel des griechischen Sagenhelden Jason und seiner Argonauten auf ihrem Raubzug nach dem Goldenen Vlies. Für die politisch Interessierten war der Kaukasus ein Raum in dem die Interessen des Osmanischen und des Russländischen Reiches aufeinanderstießen. (Das russische Zarenreich umfasste die Siedlungsgebiete vieler Ethnien, etwa auch der Georgier, weshalb man heute vom russländischen Reich, weniger vom Russischen Reich spricht. Russen stellten zwar die politisch führende Ethnie so wie die Türken im Osmanischen Reich, weshalb diese Bezeichnung zutreffender ist als das früher verwendete Begriff des Türkischen Reiches; beide Imperien betonten zwar in ihren Narrativen meist nur die politische führende Ethnie, ihre Bevölkerung setze sich de facto aus mehreren Ethnien zusammen.) Letztlich gelang es dem russländischen Reich seit dem 18. Jahrhundert die Oberhand im Kaukasus zu behalten und in einer Art Binnenkolonisation teils durch Kriege, teils durch politische Einflussnahme sein Territorium zu erweitern. Einen der letzten dieser Kriege erlebten die Suttners zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Georgien. So wie andere Kolonialreiche sicherte das Zarenreich seine Erwerbungen auch durch die Integration der regionalen Eliten in seine Oberschicht ab, was am Beispiel von Niko I. Dadiani (1847 – 1903), dem Sohn von Berthas Bekannten, greifbar wird. Er hatte eine führende Stellung in der Armee des Zaren und gehörte – vielleicht auch nolens volens – zu dessen Hofgesellschaft.
In Georgien verkehrte das Ehepaar Suttner zunächst mit der fürstlichen Familie Dadiani und mit einigen Angehörigen der regionalen Oberschicht. Für manche von diesen waren die Eheleute Suttner wohl exotische Personen aus dem weit entfernten Europa, was ihnen hin und wieder Aufträge für die Erteilung von Fremdsprachen- und Musikstunden einbrachte. Doch von einem geregelten Einkommen konnte keine Rede sein, auch nicht als sie in die Hauptstadt Tiflis umzogen. Sie glichen mehr den Glücksrittern aller Art, die es überall in kolonialen Randgebieten gab, die ihre europäische Herkunft, deren Sprachen und Lebensweise der einheimischen Oberschicht gegen klingende Münze vermitteln wollten. Weil die Eheleute Suttner die Landessprachen nicht beherrschten, lebten sie in einer doch recht engen „europäischen Blase“, ähnlich dem Phänomen der „Expat(riot)s“ oder „Internationals“ unserer Zeit.
Die materielle Situation des Ehepaares Suttner verbesserte sich erst ein wenig als zuerst Arthur Gundaccar für deutschsprachige Zeitungen zu schreiben begann und bald auch Bertha, die dann allerdings schneller erfolgreich wurde. Viele Zeitungen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet, die nicht nur Politik und Wirtschaft kommentierten, sondern durch ihren Kulturteil auch um die Gunst des zunehmenden Lesepublikums kämpften. Mit Fortsetzungsromanen sollten die Leserinnen und Leser zum regelmäßigen Kauf der Zeitungen angeregt werden und Bertha von Suttner bediente dieses Segment geschickt. Grundlage dafür war ein leistungsfähiges Postsystem, das damals entlang der Handelsrouten schon global funktionierte, sodass Manuskripte in die Redaktionsbüros deutschsprachiger Zeitungen gelangten und in die andere Richtung nach Georgien Geldüberweisungen, die dringend von den Suttners benötigt wurden. Schreibend bauten sie sich auch Kontakte zu Journalisten und Schriftstellern in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich auf.
Bertha schildert in ihren Memoiren die Zeit in Georgien als eine entbehrungsreiche, aber idyllische Zeit eines jungen Ehepaares. Ihre Sichtweise sollte als einzige der Nachwelt erhalten bleiben, ganz bewusst vernichtete sie offenbar als sie an diesen Erinnerungen arbeitete, Briefe, die an ihre Mutter oder Arthurs Familie gegangen waren. Außerdem war ihr Ehemann 1902 verstorben, was ein weiterer Grund für die Arbeit an ihren Erinnerungen gewesen sein dürfte. Gerade im vierten Teil der Memoiren, der den Jahren im Kaukasus gewidmet ist, bezeichnet Bertha ihren Mann im Text oft als den „Meinen“. Das war aber nicht nur eine schriftliche, rückblickende Gefühlsbetonung, sondern in der Korrespondenz österreichischer Adeliger jener Zeit ebenso häufig und eigentümlich wie die Koseform „mein Alter/meine Alte“ schon unter jungen Ehepaaren.
Für Baron und Baronin von Suttner war Georgien zwischen 1876 und 1885 ein Zufluchtsort. Ihre Erlebnisse im Kaukasus zeigen zum einen dessen selektive Wahrnehmung durch Europäer und zum anderen die zunehmende Verflechtung dieses Raumes mit Europa.